Value & Price

Ungleichheit

Ein Vorteil, den eine mehr oder weniger freiwillige häusliche Quarantäne bietet, ist der Umstand, dass man sehr viel Zeit für Dinge hat, für die man im „normalen“ Alltag oftmals nicht die Zeit findet. Seit einigen Jahren schon habe ich die Angewohnheit, mir eine durch bestimmte Ereignisse ausgelöste Neugier für ein bestimmtes Thema durch einen sofortigen Kauf dazu passender Bücher für später zu „konservieren“. Das führt dann dazu, dass sehr viele nagelneue, aber unberührte Bücher in meiner bescheidenen Bibliothek zu finden sind, deren darin für mich haltbar gemachter Wissensdurst nur auf eine Gelegenheit wartet, gestillt zu werden.

Gestern also, bei der Lektüre der „Hinweise des Tages“ der NachDenkSeiten vom 31.03.20, Punkt 19, „Eine gerechtere Gesellschaft ist möglich“, wurde ich dazu animiert, der noch verschweißten Ausgabe von Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ in meinem Bücherregal völlig unromantisch ihre Jungfräulichkeit zu nehmen. Warum wurde ich dazu animiert? Weil ich in der aktuellen Situation viel sensibler dafür bin und genauer spüre, wie ungleich die Menschen von den deutschen Regelungen zum „Schutz der Risikogruppen und des Gesundheitssystems in der Corona-Krise“ sowie ihren finanziellen Auswirkungen betroffen sind.

Weil ich diese Ungleichheit in meinen Gedanken bereits auf die ganze Welt generalisiert hatte, es ist doch eigentlich überall auf der Welt so sei, und das dann im globalen Kontext, dem internationalen Kampf der Reichen gegen die Armen (… wie Buffett so schön sagte …) betrachtete, wollte ich eine Antwort darauf finden, ob diese Ungleichheit ein Naturgesetz ist, wie lange es schon existiert und wenn es wirklich naturgemäß ist, wie kann ich dafür sorgen, dass ich zu den Reichen/Gewinnern der Krise(n) gehöre. In meiner naiven Vorstellung wäre ich ein guter Reicher, würde meine Wurzeln und humanistischen Ideale nicht vergessen, würde für eine Verringerung der Ungleichheit von Arbeits- und Kapitaleinkommen und damit auch für eine gesündere, stabilere Gesellschaft eintreten. Nicht nur ich, sondern alle hätte etwas davon, wenn ich reich wäre. So die Idee!


Disclaimer

Zunächst möchte ich vorausschicken, dass ich nicht alle fast 800 Seiten des Buches komplett gelesen habe, sondern noch dabei bin. Für den heutigen Artikel habe einfach die Mitte aufgeschlagen (Kapitel 7, „Ungleichheit und Konzentration: erste Anhaltspunkte“), ein paar Zeilen gelesen, habe gemerkt, dass ich Kapitel 5 für das Verständnis von Kapitel 7 benötigte, habe dann Kapitel 5 („Das langfristige Kapitel-Einkommens-Verhältnis“) gelesen, um dann den Block von Kapitel 7 bis 11 in seiner Gänze aufzusaugen. Insgesamt habe ich also nur knapp 350 Seiten des Werkes intensiv durchwühlt.

Abgesehen davon bin natürlich kein zertifizierter oder akademisch dekorierter Volkswirt, sondern schöpfe aus meinen eigenen Erfahrungen, die ich versuche irgendwie mit meiner volkswirtschaftlichen Grundausbildung zu „matchen“, wie man bei Tinder Neu-Deutsch sagt.


Piketty über die Ungleichheit

Beginnen wir kurz und flüchtig beim Urschleim: Es gibt in einer beliebigen Volkswirtschaft ein „Nationaleinkommen“ (NE). Das ist sie Summe aller Einkommen, die den Menschen dieser Volkswirtschaft zufließen. Im Allgemeinen gibt es nur zwei Arten von Einkommen. Arbeits- (Löhne, Gehälter, Eträge aus selbständiger Tätigkeit etc.) und Kapitaleinkommen (Dividenden, Zinsen, Mieten, Pachten, Renten etc.).

Nun gibt es mehrere Ungleichheiten, die Piketty analysiert. Zunächst die einfachste Variante, nämlich dass der Anteil der ein Einkommensart am Nationaleinkommen höher ist, als der Anteil der anderen Einkommensart. Wenn bspw. der Anteil der Kapitaleinkommen am NE signifikant höher ist, als der Anteil der Arbeitseinkommen, dann ist das offensichtlich eine ungleiche Verteilung. So eine Ungleichheit hat gleich mehrere gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Implikationen, die Piketty an den Beispielen Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und den USA ausführlich schildert. Ich kann und will das ganze Buch hier nicht wiederkäuen, sondern eher eine Leseempfehlung á la Bouvier aussprechen (siehe obigen Disclaimer).

Neben der Ungleichheit zwischen den Einkommensarten gibt es auch Ungleichheiten innerhalb der einzelnen Einkommensarten. In Bezug auf das Arbeitseinkommen ist das zum Beispiel der Fall, wenn ein „Supermanager“ das 50 bis 100-fache des Durchschnittslohns eines einfachen Arbeiters verdient.

Innerhalb der Kapitaleinkommen liegt z. B. eine Ungleichheit vor, wenn Mieten und damit Mieteinnahmen einen gesetzlichen Deckel bekämen, somit eine Renditeobergrenze erhielten, während Dividenden- und Aktienkursgewinne unbeschränkt eingestrichen werden dürften. Auf diese Weise würden Menschen, deren Vermögen hauptsächlich aus Immobilien besteht, gegenüber denjenigen, deren Vermögen hauptsächlich aus Wertpapiere besteht, in ihrem Einkommensmöglichkeiten zurückfallen.

Insgesamt besteht eine Tendenz dazu, dass sich das Vermögen einer Volkswirtschaft immer ungleich verteilt. Die 10% der Reichsten, werden immer den größten Anteil, die unteren 50% immer einen geringen Anteil daran haben. Beim Verhältnis zwischen den wenigen Menschen oberen 1% und der Masse der unteren 50% ist das Missverhältnis noch krasser. Wenn das so ist, dann sind auch die Einkommen aus dem Kapital ungleich verteilt. Wenn man nun noch weiter unterstellt, dass sich große Vermögen (viel Kapital) aufgrund ihrer Masse irgendwann von allein vermehren, dann wird damit die Ungleichheit der Einkommen, der Vermögensverteilung und der daraus erwachsenden Implikationen immer weiter verstärkt (Divergenz, nennt Piketty das).

Relevante Schlussfolgerungen Pikettys

Ich kann und will hier, wie bereits erwähnt, nicht jede einzelne Herleitung, Begründung oder Schlussfolgerung Pikettys wiedergeben, sondern nur das erwähnen, was für meine oben beschriebene Idee („zu den Gewinnern zu gehören“) relevant ist.

  1. Es gibt seit Jahrhunderten, auch schon in den Agrargesellschaften des Mittelalters, immer Ungleichheiten in Bezug auf das Einkommen. Dort, wo Kapital und Arbeit ungehindert miteinander wetteifern, ist die Tendenz zur Ungleichheit einfach naturgemäß. Es gibt keine „natürliche Kraft“ zu einem „gesunden Gleichgewicht“ zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen oder innerhalb der Einkommensarten. Genau das Gegenteil ist die „historische Realität“!
  2. Der Tatsache, dass sich dieses Ungleichgewicht im 20. Jahrhundert einmal so ausgeglichen/umgekehrt hatte, dass Arbeitseinkommen eher zu Reichtum führten, als es Kapitaleinkommen vermochten, ist auf die Schocks der zwei Weltkriege und dem daran anschließenden Wirtschaftswunder mit den über der Kapitalrendite liegenden Wachstumsraten zurückzuführen.
  3. „Normalerweise“ (in der Geschichte der letzten 300 Jahre begründet) liegt die Wachstumsrate aber unter der Kapitalrendite und somit gesellt sich Kapital immer zu bereits vorhandenem Kapital, der Kapitalstock wächst. Die Wachstumsraten der Arbeitseinkommen können nicht Schritt halten, die Vermögenskonzentration nimmt zu, die Ungleichheit steigt weiter.
  4. Für die langfristige Akkumulation von Kapital ist das Erben weiterhin der unverzichtbare sowie essentielle Hauptbaustein. Es hat sich heute, im Vergleich zum 18. und 19. Jahrhundert (die Zeiten der Romane Honoré de Balzacs und Jane Austens) in dieser Hinsicht nichts geändert.
  5. Frankreich und Deutschland befinden sich aktuell auf dem Pfad, der hin zu einer Vermögenskonzentration, wie sie für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg („Belle Epoque“) charakteristisch war, führt. Im Jahre 1945 und danach gab es nichts zu vererben, die Vermögen waren quasi ausgelöscht (siehe 2.). Dies „normalisiert“ sich aber momentan wieder, die Erbmassen/-volumina steigen.
  6. Zu dem in 5. geschilderten Ungleichheitstreiber kommen aktuell noch die Ungleichheiten bei den Arbeitseinkommen hinzu. Die Einkommen von „Supermanagern“ werden von anderen „Supermanagern“ im Rahmen der gesellschaftlich und sozio-ökonomisch akzeptierten Normen festgelegt. Einen Supermanager zeichnet aus, dass seine Tätigkeit nicht genau beschrieben, seine Grenzproduktivität (sprich: sein Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens) innerhalb des Unternehmens nicht genau beziffert werden kann, seine Tätigkeit nicht beliebig duplizierbar ist.
  7. Das einzige, was in einer Gesellschaft dem intrinsischen Ungleichgewicht zwischen Kapital/Arbeit Einhalt gebieten kann, ist ein mit dieser Prämisse angelegtes Steuersystem. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Steuersysteme in Frankreich und Deutschland genau so angelegt (Vermögenssteuer/-verzeichnis, Erbschaftssteuer etc.).
  8. Das in 7. geschilderte Steuersystem führte dazu, dass sich nach dem zweiten Weltkrieg in Frankreich und Deutschland eine vermögende Mittelschicht unterhalb der reichsten 10% der Bevölkerung bilden konnte. Je mehr so ein Steuersystem sich von seiner Prämisse entfernt, desto schneller verschwindet auch die vermögende Mittelschicht, das „natürliche Ungleichgewicht“ zwischen Arbeit und Einkommen kann sich entfalten (siehe 1.).

Mein Fazit

Es klingt irgendwie komisch, aber mein eigenes Fazit wird wahrscheinlich wie das Resümee einer feucht-fröhlichen Stammtischdiskussion klingen. Vom Arbeiten allein werde ich nicht reich werden. Wenn ich im Laufe meines Lebens nicht in den Genuss einer mehr oder weniger stattlichen Erbschaft gelange, dann kann ich mir das Reichwerden wohl abschminken. Den Fakt des Selber-Erbens kann ich leider so gar nicht beeinflussen. Anders verhält es sich allerdings mit dem Arbeitseinkommen.

Wenn ich, wie bisher, weiterhin arbeiten muss (eigentlich muss ich es nicht, ich tue es nur wegen des Geldes), dann sollte ich meine Karriere so ausrichten, dass meine Tätigkeit irgendwann in keine Gehaltstabelle, mein Arbeitsvertrag in keinen Tarifvertrag passt. Mit ein wenig Glück, Erfahrung, Qualifikation, Beziehung und Ausdauer gelange ich eventuell irgendwann vor ein Gremium von „Supermanagern“ meines beruflichen Metiers, denen ich dann von Angesicht zu Angesicht, frei von jeder Tabelle oder Tätigkeitsbeschreibung meine Arbeitskraft für einen jährlichen Millionenbetrag verkaufen kann.

Mein Augenmerk in Bezug auf das Reichwerden sollte allerdings immer und vor Allem, auf der Akkumulation von Kapital liegen. Die Akkumulation erfolgt durch eine hohe Sparrate und ein entsprechendes Investitionsverhalten. Irgendwann erreicht mein akkumuliertes Kapital hoffentlich die kritische Masse, die erforderlich ist, um sich von ganz allein zu vermehren. Sollte ich diesen Punkt in meinem Leben nicht erreichen, dann habe meinen Nachkommen hoffentlich einen soliden „Warmstart“ im Guerrilla-Krieg „Arm gegen Reich“ verschafft.

Achso ja, Nachkommen. Da hab‘ ich ja noch gar nicht drüber nachgedacht. Zählt das jetzt als Kapitalakkumulation oder als Konsum? Und ohne Nachkommen wird es eh nix mit einer Kapitalakkumulation über mehrere Generationen, dem wahren Reichtum! Wozu also das ganze, wenn man keine Nachkommen hat? Wieder eine ganz andere Frage…

– Fin –

1 Kommentar

  1. Jan Volz

    Hi Vincent, vielen Dank für den Beitrag, an Piketty hatte ich mich bisher nicht heran getraut.

    Die Einordnung durch Piketty ist eine historische Einordnung der Vorgänge, die man in US schon seit Jahren massiv beobachten kann und die auch in Europa verstärkt kommen wird.

    „Aktuell“ wird der drohende Verlust der Arbeit und das Abrutschen in Armut immer noch mit Automatisierung in einen Zusammenhang gestellt. Von der nicht bereits reichen Mittelschicht werden oft keine Rücklagen aufgebaut, sondern konsumiert. Die Früchte der eigenen Anstrengungen sollen genossen werden, was in Hinblick auf den Vermögensaufbau eine konträre Vorgehensweise ist.

    In der „goldene“, zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte eine breite Bevölkerung aus dem bis dahin gewohnten Armutsstatus in den finanziell halbwegs sorglosen Mittelstand wechseln. Wenn sich der Mittelstand jetzt wieder auflöst, werden einige Generationen, die bisher keine Armut kannten, dazu lernen müssen. Selbst ein BGE hilft an der Stelle nicht der Masse.

    Das unter 7 und 8 angeführte Steuersystem wurde und wird ausgehöhlt, Vermögen werden kreativ angelegt und versteckt.

    Eine Lösung? Das genannte Steuersystem müsste weltweit gestärkt und verankert werden und ein Gemeinsinn sollte wieder vorhanden sein.

    Wir leben in interessanten Zeiten 🙂

    Viele Grüße, Jan

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