Value & Price

Glosse zum Glück

Irgendwann im Laufe des ersten Lebensjahres dieses Blogs habe ich mich dazu hinreißen lassen, meine persönliche, finanzielle Freiheit als übergreifendes Ziel dieser Webseite zu definieren; genau so, wie es gefühlt tausende andere Finanzblogs ebenfalls tun. Ich war der Meinung, das wäre ganz natürlich, denn warum sollte ich mein Börsen-Nerd-„Talent“ nicht für solch ein scheinbar erstrebenswertes Ziel verwenden.

Hinzukommt, dass „finanzielle Freiheit“ so schön definierbar ist: 70% meiner monatlichen Kosten sollen von passivem Einkommen gedeckt sein, sobald ich 60 Jahre alt bin. Ergo: monatliche Kosten gering halten und bis zur Erreichung des Zielalters Kohle scheffeln, scheffeln, scheffeln so viel es geht! Komme was wolle!

Aber warte mal: Was ist mit dem Glück? Mit der Lebensfreude? Spaß? Und all den anderen synonymen Emotionen? Bin ich bis dahin eine rücksichtslose Maschine, die blind einer Zahl auf irgendeinem virtuellen Statusanzeiger hinterherrennt? Einem virtuellen Statusanzeiger, der von anderen und größeren sowieso beliebig manipulierbar ist? Ist das wirklich erstrebenswert? Und viel wichtiger: bin ich glücklich, sobald ich das Ziel erreicht habe? Was war in der Zwischenzeit? Was ist aus mir geworden? Was bleibt von mir als Mensch?

Glück als Lebensziel

Als ich also leichtfertig das Ziel „finanzielle Freiheit“ heraus posaunte, habe ich mir keinerlei tiefere Gedanken darüber gemacht, was dies eigentlich für mein Leben impliziert. Es kann doch nicht „natürlich“ sein, fast drei Viertel des Lebens das „Glück“ hinten anzustellen, um dann als über die Jahre verkrusteter Egoist zu erwarten, dass das letzte Viertel der Glücks-Knaller wird, oder? Wenn aber das persönliche Glück (Wohlsein, Zufriedensein, Fröhlichsein etc.) mein eigentliches Lebensziel ist, was ich jetzt hier mal so en passant und wirklich nur halblaut kundgebe, dann kann die „finanzielle Freiheit“ maximal eine Variante zur Erreichung sein, aber niemals das Ziel selbst.

Mit diesen Gedanken im Kopf begab ich mich, wie kann es anders sein, auf die Suche und hörte mir unter Anderem ein paar Vorträge von Dieter Lange, ich nenne ihn mal einen „Zufriedenheits-„, „Gelassenheits-“ oder „Glückscoach“, an.

Dieter Lange über das Glücklichsein…. (ca. 30 Minuten)

Das obige Video dient nur zu Illustration und Inspiration, aber ein Buch, auf das ich in einem anderen Interview mit Herrn Lange hingewiesen worden bin, stellt die eigentlich relevante Frage zum Thema Glück und trägt den Titel „Haben oder Sein“ und wurde von Erich Fromm geschrieben.

Haben oder Sein?

Laut Fromm gibt es im Wesentlichen zwei unterschiedliche Existenzweisen, die uns, unser Leben und somit unseren Charakter prägen: die Weise des Habens oder die Weise des Seins. Die Analysen, Begründungen und Herleitungen für seine Aussagen basieren auf religiösen, historischen, psychoanalytischen Quellen und ergeben in Summe ein so schön rundes Bild von der heutigen, profitorientierten Gesellschaft und ihren Auswirkungen auf uns Menschen, dass ich nicht umhin komme, meine eigene Lebens- und Wirkungsweise in dem von ihm geworfenen Licht zu untersuchen.

Die Lebensweise des Habens wird wie folgt charaktierisiert:

Die gewinnorientierte Gesellschaft ist die Basis für die Existenzweise des Habens – Erwerben, Besitzen und Gewinnmachen sind die geheiligten und unveräußerlichen Rechte des Individuums in Industriegesellschaft. Dabei spielt es weder eine Rolle, woher das Eigentum stammt, noch ist mit seinem Besitz irgendeine Verpflichtung verbunden. […] Diese Form des Eigentums wird Privateigentum genannt […], weil sie andere von dessen Gebrauch und Genuss ausschließt und mich zu seinem Besitzer, seinem einzigen Herrn macht. Diese Form von Eigentum ist angeblich etwas Natürliches und Universales, während sie in Wirklichkeit eher die Ausnahme als die Regel darstellt, wenn wir die gesamte menschliche Geschichte einschließlich der Prähistorie betrachten, insbesondere jene außereuropäischen Kulturen, in welchen die Wirtschaft nicht Vorrang vor allen anderen Lebensbereichen hatte.

Fromm, „Haben oder sein“ (1979), 48. Auflage, seite 89

So! Bis hierhin kommt wahrscheinlich jeder Börsianer/Investor/Sparer noch mit und fragt sich, warum es notwendig sein könnte, diese „Gott-gegebene“ Lebensweise überhaupt zu kommentieren. Viele von uns sind, wie Fromm feststellt, ohnehin in der Existenzweise des Habens groß geworden und kennen somit keine Alternative dazu. Schauen wir uns doch trotzdem die Lebensweise des Seins einmal an…

Haben bezieht sich auf Dinge, und Dinge sind konkret und beschreibbar. Sein bezieht sich auf Erlebnisse, und diese sind nicht beschreibbar. Durchaus beschreibbar ist die Persona, die Maske, die wir alle tragen, das Ich, das wir vorgeben, denn diese Persona ist selbst ein Ding. Aber im Gegensatz dazu ist der lebendige Mensch kein totes Bildwerk und kann nicht wie ein Ding beschrieben werden. Eigentlich kann man ihn überhaupt nicht beschreiben.

[…] mein gesamtes Ich, meine Individualität in allen ihren Ausformungen, mein So-sein, das so einmalig ist wie meine Fingerabdrücke, ist niemals vollkommen erfassbar, nicht einmal auf dem Weg der Einfühlung, denn es gibt keine zwei Menschen, die vollkommen identisch sind. Hier stößt die Psychologie an ihre Grenzen.

Fromm, „haben oder sein“ (1979), 48. Auflage, Seite

Boom! Kurzum: Du bist nicht das, was du hast, sondern du bist, was du wirklich bist!! In all deiner individuellen, biologischen, menschlichen, geistigen Schönheit und frei von allen Dingen!

Oder um es mit einem von Fromms Gleichnissen zu sagen: Ein blaues Glas erscheint blau, weil es alle anderen Farben absorbiert und sie so nicht passieren lässt. Das heißt, wir nennen das Glas blau, weil es das Blau gerade nicht in sich behält. Es ist nicht nach dem benannt, was es besitzt, sondern nach dem, was es hergibt.

Ergo: Das, was ich selbst als Mensch bin, mit all meinen bewussten und unbewussten Ängste, Wünschen, Erfahrungen, Leidenschaften, Macken etc. kann ich gar nicht erfassen. Ich definiere mich durch meinen Namen, meinen Besitz, meine für mich erfassbaren Eigenschaften, aber eigentlich sind genau das die Dinge, die mich eben NICHT ausmachen!

… zurück zum Schotter! Aber wozu?

Nach diesem ganzen philosophischen Geschwurbel fällt es mir wirklich schwer, die Kurve zurück zur Börse/zum Investieren zu fliegen. Dass das Glück ab einem Jahreseinkommen von 75.000 Euro stagniert ist nachvollziehbar. Nachdem man seine Grundbedürfnisse nach Essen, Trinken, Schlafen und Sicherheit befriedigt hat muss es tatsächlich irrelevant sein, ob ich sieben oder acht Teslas in der Garage zu stehen habe, ob ich mein Jahreseinkommen mit 10 Mio. oder 100 Mio. Euro beziffere. Und obwohl ich noch nie von dieser Seite des Reichtums auf das Leben geblickt habe gelange ich zu der Überzeugung, dass das Glück nicht im Haben liegt.


Exkurs: Mehr Haben als unbedingt nötig belastet

Besitz und Eigentum erfordert ständige Aufmerksamkeit, erzeugt Verlustängste und verstellt den Blick auf das Menschliche. Und wenn ich mir die Wohnung meiner Lebensgefährtin und ihren Kindern so ansehe, dann ist schier unendlicher Krims-Krams (äh… ich meine natürlich Spielzeug, Haushaltswaren, Möbel, Elektronik- und Elektro-Artikel, Deko-Artikel, Textilien und so fort) im unmittelbaren Umfeld doch tatsächlich eine echte Belastung, eine wahre Bürde!!

Viel anders kann es auch mit großem Finanzvermögen nicht sein. Beispielhafte 1.299 Mio. Euro Aktien-, Immobilien-, Kunst- und Geldvermögen kann ich doch nicht ernsthaft noch selbst verwalten und dabei erwarten, glücklich zu sein. Also werde ich an irgendeiner Stelle „Vertrauenspersonen“ einsetzen, die mir die „Bürde“ abnehmen. Und ob mir bei so einem hohen Gesamtvermögen ein paar Milliönchen fehlen, ist für mein Leben ohnehin nicht relevant und daher kann es mir egal sein. Das wissen auch die „Vertrauenspersonen“.

Also? Alles selber machen? ICH habe MEIN Vermögen komplett SELBST in der Hand und zähle wie Dagobert Duck jeden Tag nach. Toller Schuh! Aber dass man davon glücklich wird bzw. bleibt, kann mir niemand weismachen…


Fromms Antwort für die Frage nach dem Glück ist einfach: sie liegt im Sein! Im Erleben und Erfreuen des Lebens selbst, ohne nach dem Haben/dem Besitz/dem Erwerb zu streben.

Das Glück, einem fröhliches Kind auf einer sonnenbestrahlten Wiese beim genießen des Blumenduftes zuzusehen.
Das Glück ist immer schon da…

Zu abstrakt? Ich mache es konkreter; das Glück liegt darin

  • einem Kind beim Spielen zuzusehen
  • zu schenken, ohne ein Gegengeschenk zu erwarten
  • Kunst zu genießen, ohne die DVD/die CD/das Bild kaufen zu müssen
  • zu lernen, ohne wissen zu wollen
  • eine Blume anzusehen, ohne sie zu töten, um einen daraus einen Blumenstrauß zu machen
  • zu wünschen (jupp, einfach nur die Sehnsucht erleben)
  • den Mount Everest in seiner Größe zu sehen, zu erleben, zu akzeptieren, ohne danach zu streben, ihn besteigen zu müssen
  • zu lieben, ohne nach sexueller Vereinigung zu gieren
  • die Nähe eines Menschen zu genießen und dessen eigene Freiheit bejahen, ohne ihn binden zu wollen, nur um seine Nähe „für sich“ zu beanspruchen

Die Liste ist unendlich…

Resümee

Erich Fromm erwähnt in seinem Buch noch viele andere Autoren und Bücher. Er bezieht sich auf seine Ideen und Gedanken und meine Angewohnheit ist es, MIR auf diese Weise MEINE eigene Bibliothek anzufüllen. Ein „One-Click-Buy“ und am nächsten Tag HABE ich auch dieses Buch in MEINEM Schrank. Na? Was gemerkt? Genau! Ich will haben! Ich will Fromms Werdegang, seine Gedanken, seine Quellen HABEN, ich will sie besitzen und Herr über sie sein, indem ich sie mir aus dem Schrank ziehen kann, wann immer ich will. Ich kann sie herumzeigen und behaupten, ich HABE Fromm bzw. seine Denke!

Ich habe aber, entgegen meiner Schein-Natur, meinem Schein-Ich, nicht ein einziges Buch bestellt. Ich habe der Erfüllung dieses Dranges nach Besitz nicht nachgegeben. Wie gesagt, ein Klick und es hätte am nächsten Tag vor meiner Tür gelegen. Aber diese Einstellung scheint ja ein Irrweg zu sein…

Wenn ich irgendwann einmal irgendwo zufällig an einem Flohmarkt vorbei schlendern und durch aktives Stöbern an einem der Stände auf eines von Fromms Bücher stoßen sollte, dann werde ich dieses Erlebnis sicherlich damit abrunden, mit dem Verkäufer um den Preis zu feilschen und letztendlich das Buch mitnehmen. Ich freue mich schon jetzt darauf und dieses Gefühl ist unbezahlbar!


Post Skriptum

In meinem Artikel über gesellschaftlich-finanzielle Ungleichheit hatte ich die Ursachen wahren Reichtums anhand von Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ kurz dargelegt. Ich schloss den Beitrag mit einem Quasi-Plan darüber, wie ich in meinem Leben diesen wahren Reichtum erreichen könnte.

Nach dem heutigen Artikel stellt sich mir allerdings die entgegengesetzte Frage danach, wie ich mit meinem Vermögen den „Mindset-Schwenk“ vom „Glück haben/erwerben“ zum „Glücklich-sein“ bewerkstelligen könnte. Profit, Mehr-Haben, Zins, Dividende ist nicht der Weg dorthin.

Der eine Teil der Antwort auf diese Frage lautet: wie viel benötigte ich für mich und meine Familie, um zu leben (funktionales Haben á la Fromm für Essen, Trinken, Wohnen und Sicherheit). Wenn ich das definiert habe weiß ich, wieviel ich „über“ HABE, um es in SEIN zu verwandeln. Wie auch immer…

Ui ist das alles schwierig und sooo theoretisch… Naja… mal sehen, wie es weiter geht… wer mir bis hierher noch folgen wollte kann an meine monologe Diskussion gern unterbrechen… 🙂

1 Kommentar

  1. Lande

    Herzlichen Glückwunsch zum Beginn der „ Reife“.
    Mit herzlichen Grüßen Lutz

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