Über die vielen Lobeshymnen und Referenzen Warren Buffetts auf ihn, kam ich dazu, mich mit Benjamin Graham auseinander zu setzen. Und, ganz der Dozent, ist alles, was Graham, schlussfolgert, theoretisch fundiert und nachvollziehbar.

In „Security Analysis“ von 1934 beispielsweise erläutert er anhand der Bilanzen der Unternehmen 20er und 30er Jahre die Herleitung des intrinsischen Wertes einer Aktie oder Anleihe.

Das geniale an Graham (und seinem Co-Autor Dodd) ist, dass er sich stets darüber im Klaren ist, dass er auch nach der gründlichsten vergangenheitsbezogenen Analyse niemals die Zukunft wird voraussagen können. (Eine Prämisse, die Graham mit James Montier, der sich in den 2000er Jahren vehement gegen das „sinnlose Forecasting“ der Ökonomen und Analysten ausspricht, gemein hat.)

Graham sieht die zurückliegenden 7-10 Geschäftsjahre eines Unternehmens als einem adäquaten Betrachtungszeitraum, um einen Eindruck davon zu erhalten, wie zuverlässig zukünftige Gewinne/Aktie bzw. Zinskuponzahlungen auf Anleihen durch Hochs und Tiefs sein KÖNNTEN.

In seinem kurzen Handbuch „The Interpretation of Financial Statements“ geht er zum Beispiel direkt auf einzelne Bilanzposten ein und gibt Hinweise darauf, wie seiner Meinung nach dieser oder jener Posten bei einem soliden Unternehmen aussehen sollte.

Die Schwäche seiner Analysen aus heutiger, meiner Sicht ist leider, dass er sich in all seinen Beispielen oft auf Eisenbahn- oder Energieversorgungsunternehmens bezieht. Im Kontext seiner Zeit mag das hilfreich gewesen sein, aber für das 21. Jahrhundert wünschte ich mir oft seine Meinung zu einem Unternehmen wie IBM oder Goldman Sachs oder sogar Versicherungsunternehmen, auf die sein Schüler Warren Buffett so schwört, zu lesen.

Darüber hinaus sind die steuerlichen Betrachtungen in den Texten sowohl bei Graham wie bei Buffett auf das alte, amerikanische Steuerrecht bezogen, was natürlich heutzutage, wenn überhaupt, nur historischen, aber keinen finanziellen, Mehrwert mehr bieten kann.

Sicherheitsmarge

Das zentrale Konzept von Grahams Investmentphilosophie ist das der Sicherheitsmarge („Margin of safety“). Sie beschreibt den Abstand des Marktpreises eines Wertpapieres zum inneren Wert desselben Papieres.

Sagen wir eine Aktie kostet an der Börse 12 Euro und der Investor kommt nach seiner Analyse zu der Erkenntnis, der innere Wert beträgt aber 24 Euro, dann kann der Investor das Unternehmen zum halben Preis des intrinsischen Wertes erstehen. Die anderen 50% sind also de facto seine Sicherheitsmarge, weil Graham davon ausgeht, dass der Markt, also der manisch depressive „Mr. Market“, momentan einfach blind ist und früher oder später den Wert erkennen wird, ergo den waren Wert sehen muss.

Mit den Worten Grahams:

The margin-of-safety idea becomes much more evident when we apply it to the field of undervalued or bargain securities. We have here, by definition, a favourable difference between price on the one hand and indicated or appraised value on the other. That difference is the safety margin.

Benjamin Graham, The intelligent Investor, Seite 245

Die Sicherheitsmarge hat aber noch eine andere, gewichtige Funktion. Jede Berechnung, die den inneren Wert einer Aktie teilweise auf die Basis zukünftiger Gewinne stellt, muss fehleranfällig sein. Die meisten solcher Berechnungen basieren darüber hinaus noch auf „Schön-Wetter-Aussichten“ und tragen sehr wahrscheinlich eintretenden Krisenzeiten keinerlei Rechnung. Wenn die Sicherheitsmarge beim Einstieg in ein Investment allerdings komfortabel genug gewählt ist, dann sind unvorhergesehen Ereignisse, die sich auf die Earning-Power des Unternehmens auswirken, bereits gepuffert.

Des Weiteren gehen laut Graham die Diversifikation und die Sicherheitsmarge „Hand in Hand“ („close logical connection“, „correlative to one another“). Mit einer guten Kombination von komfortablen Sicherheitsmargen mehrer Wertpapiere im Portfolio wird die Summe der aggregierten Gewinne die aggregierten Verluste übersteigen: „That is the simple basis of insurance-underwriting business“, sagt Graham. (vielleicht ist das auch die Referenz zum Versicherungsgeschäft, die ich mir von Graham weiter oben im Text erhofft hatte)

Innerer / Intrinsischer Wert eines Wertpapiers

Der innere Wert einer Anleihe ergibt sich, vereinfacht gesagt, aus den Zinszahlungen über die Laufzeit mit der vollständigen Rückzahlung am Laufzeitende. Hier definiert Graham die Sicherheitsmarge so, dass das Unternehmen seine jährlichen Zinszahlungen um das 2-3fache mit dem jährlichen Gewinn abdecken können muss.

Für den inneren Wert einer Aktie kann Graham auch nur eine grobe Richtung geben. Er selbst attestiert, dass jede Einschätzung, egal wie genau und akribisch, am Ende nur eine subjektive Wahrnehmung des Analysierenden sein kann. Jeder setzt andere Schwerpunkte, rechnet mit anderen Eintrittswahrscheinlichkeiten etc. (1)

Wichtige Kennzahlen für Graham sind zum Beispiel die Assets/Aktie, die flüssigen Mittel, das Verhältnis zwischen Eigenkapital/Fremdkapital, die Gewinn- und Dividenenhistorie. Graham macht keinerlei feste Vorgaben für die Auswahl seiner Kennzahlen bei der Aktien- oder Fundamentalanalyse von Wertpapieren, sondern bleibt vage und legt die Bewertung in die Hände des „Intelligent Investors“.

Mr. Market

Graham war es auch, der das Bild des berühmten und viel zitierten manisch depressiven „Mr. Market“ ins Leben rief, um die Börse und ihre Kurse zu veranschaulichen. Jeden Tag klopft Mr. Market an deine Tür und macht dir ein Kaufangebot für deine Aktien oder bietet dir Aktien zum Kauf an. Jeden Tag kann der Investor ja oder nein sagen. Manchmal ist Mr. Market gut drauf und euphorisch, dann hat er horrende Preise, manchmal ist er wieder extrem pessimistisch und verkauft um jeden Preis. Nie weiß der Investor wie Mr. Markets Stimmung am nächsten Tag sein wird, aber er kann sich drauf verlassen, dass Mr. Market wieder vor seiner Tür stehen wird.

Gerade deshalb ist die Untscheidung zwischen Value (Wert) und Price (Preis/Aktienkurs) essentiell, denn nur dann kann man die Stimmungen Mr. Markets erkennen zu seinen Gunsten ausnutzen.

Fazit

Woran sollte sich ein „intelligenter“ Value Investor bei seinen Entscheidungen also orientieren? Graham dazu:

Investment is most intelligent when it is most businesslike.

Benjamin Graham, The intelligent Investor, Seite 249

Dazu liefert er uns gleich 4 „accepted business principles“ mit, die ich hier gern nenne.

  1. Know what you are doing, know your business: Engagiere dich also nur in Geschäften, die du kennst und verstehst.
  2. Do not let anyone else run your business: Führe deine Geschäfte immer selbst, es sei denn (a) du überwachst denjenigen, der es für dich tut, und (b) du hast „unusually strong reasons“, fest an die Integrität und die Fähigkeit desjenigen zu glauben, der es für dich tut. Meiner Meinung nach ist da sein klares Votum für Stammaktien und gegen stimmrechtslose Vorzugsaktien. Wie sollte ich anders „mein“ Management kontrollieren können?
  3. Do not enter upon an operation unless a reliable calculation shows that it has fair chance to yield a reasonable profit: Die pessimistische, also auch für Krisenzeiten ausgelegte, Berechnung des inneren Wertes und die abgeleitete Sicherheitsmarge sind essentielle Bestandteile dafür.
  4. Have the courage of your knowledge and experience. If you have formed a conclusion from the facts and if you know your judgement is sound, act on it – even though others may hesitate or differ: Wenn du also von der Qualität deines Prozesses der Berechnung des inneren Wertes des Investments und der Sicherheitsmarge überzeugt bist, dann handele danach, auch wenn andere von deiner Meinung abweichen.

Und mit einem Bonmot Grahams möchte ich schließen:

You are neither right nor wrong because the crowd disagrees with you. You are right because your data and reasoning is right.

Benjamin Graham, The intelligent investor, Seite 250

Grahams „The interpretation of financial Statements“: https://www.soilandhealth.org/wp-content/uploads/0302hsted/030215graham/graham.pdf

(1) In diesem Zusammenhang muss ich James Montiers geniale Ausführungen erwähnen, in denen er zu dem Schluss kommt, dass es besser ist, sich auf einige wenige Kennzahlen zu konzentrieren, weil ein Mehr an Informationen durch die Begrenztheit des menschlichen Intellekts nicht unbedingt zu besseren Entscheidungen führt.