Value & Price

Börsencharaktere

Der Roman „Geld“ von Emile Zola beginnt mit einer vormittäglichen Szene im Restaurant Champeux neben dem Börsenplatz von Paris der 1860er Jahre. Jeden Werktag von 13-15 Uhr findet nämlich im Börsengebäude nebenan das heute fast altertümlich wirkende Börsengeschehen statt, in dem Horden von Maklern mit Zetteln bewaffnet brüllend das Auf- und Abebben von Angebot und Nachfrage bestimmen. Für Zola sind alle, die sich an diesen Tumulten beteiligen – also Investoren (mit oder ohne Geld), Makler, Bankiers, Finanziers, Rentiers etc. – einfach und pauschal Spekulanten, die sich von diesem regelmäßigen, fast schon magischen Nervenkitzel ein plötzliches, schnelles Vermögen erhoffen. Zolas Darstellung dieser verschiedenen Börsencharaktere schien mir so interessant, dass ich im heutigen Beitrag gern ein paar davon erwähnen möchte, weil ich der Ansicht bin, dass sich, bis auf die Namen der verschiedenen „Investmentvehikel“ im Kern eigentlich wenig geändert hat.

Ich bezeichne mich ja selbst gern als „Value-Investor“ muss aber dennoch zugeben, dass mir, bis auf mein Südzucker-Engagement vielleicht, keine Aktie einfällt, die ich jemals länger als 2 Jahre gehalten habe. Sobald sich ein stattlicher akzeptabler Aktienkursgewinn realisieren ließ, egal ob unter oder über innerem Wert, habe ich die Aktie verkauft. Zola würde mich sicherlich ebenfalls als Spekulant beschimpfen und ich kann ihm, wenn ich mir meinen „Verlustschmerz“ vor Augen führe, den ich in meiner letzten Hornbach-Glosse aufs virtuelle Papier gebracht habe, tatsächlich wenig entgegensetzen (Hornbach steht momentan übrigens über 90 Euro. Arrrrggghh!!).

Karikiertes Selbstbildnis von V. Bouvier

Der „Weise“

Beginnen wir also mit einer Person namens „Amadieu“. Dieser unansehnliche Herr hatte ein einziges Mal richtiges Börsenglück, hat dadurch ein riesiges Vermögen angehäuft, hat aber seitdem nie wieder spekuliert, ist aber dennoch ein regelmäßiger Gast in den Gefilden rund um den Börsenplatz. Zola beschreibt ihn so:

[…} einem wohlbeleibten Herrn mit rotem, glattrasiertem Gesicht, dem berühmten Amadieu, den die Börse seit seinem glänzenden Coup mit den Selsis-Gruben sehr hoch schätzte. Als die Aktien auf fünfzehn Francs gefallen waren und man jeden Käufer für verrückt hielt, hatte er sein Vermögen, zweihunderttausend Francs, in dieses Geschäft gesteckt, aufs Geratewohl, ohne Berechnung und ohne Vorahnung, aus bloßem Eigensinn eines unvernünftigen Menschen, der das Glück herausfordert. Heute, da die Entdeckung tatsächlich vorhandener Erzvorkommen den Kurs von tausend Francs hatte übersteigen lassen, verdiente er etwa fünfzehn Millionen, und sein törichtes Geschäft, um deswillen man ihn früher eingesperrt hätte, erhob ihn jetzt zum Rang eines weitblickenden Finanziers. Er wurde besonders begrüßt und um Rat gefragt.

Zolas „Amadieu“ aus dem Roman „Geld“

Obwohl der „Weise“ nicht mehr mit seinem eigenen Geld an der Börse aktiv ist, wird jedes Gespräch, jeder Gesprächspartner, jedes Tuscheln von den anderen Börsianer mit Argusaugen beobachtet und, je nach Gemütslage des Beobachters, in die eine oder andere Richtung interpretiert. Für mich sind das heute so Spezis, die irgendwann einmal irgendwelche Crashes oder Boomphasen voraussagten oder die durch irgendwelches Storytelling in irgendwelche Penny-Stocks investierten und damit den heute so einfach medienwirksamen Erfolg hatten.

So oder so genügt es zukünftig, wenn andere über die Investments, Aktionen, Meinungen des „Weisen“ berichten, um die Stimmung anderer Marktteilnehmer oder gar ganze Nachrichtensendungen zu beeinflussen. Den „Ängstlichen“ zum Beispiel.

Der „Ängstliche“

Diese Variante der Börsencharaktere ist dadurch gekennzeichnet, dass er sich vom täglichen Nachrichten- und Gerüchtestrom mitreißen lässt, immer versucht ist, aus jedem Detail einen Informationsvorsprung zu erhaschen und dadurch aber seine geistige sowie körperliche Gesundheit riskiert. In Zolas Roman fällt diese Rolle einem gewissen „Moser“ zu:

Moser mit seiner untersetzten Figur, seiner gelben Gesichtsfarbe, durch ein Leberleiden zugrunde gerichtet, der, im Gegensatz zu Pillerault, unaufhörlich lamentiert und sich in fortwährenden Ängsten schon als Opfer eines Finanzkraches sah.

Zolas „Moser“ im Roman „Geld“

„Finanzkrach“ ist für mich übrigens das schlecht aus dem Französischen übersetzte Wort für „Finanzcrash“ aus dem 19. Jahrhundert. Der „Ängstliche“ ist so blockiert von der Fülle der Informationen, die auf ihn einprasseln, dass er eigentlich keine eigene, feste Meinung ausbilden kann, was sich dann in Monologen wie dem folgenden zeigt:

„Ich wiederhole Ihnen“, sagte Moser mit gequälter Stimme, „daß die Ergänzungswahlen vom zwanzigsten März ein höchst beunruhigendes Symptom sind … So ist heute ganz Paris endlich der Opposition verfallen.“

„Das ist genauso wie mit der Frage der Herzogtümer“, fuhr Moser fort. „Na ja, die steckt voller Komplikationen… Ganz bestimmt! Sie haben gut lachen. Ich sage nicht, daß wir gegen Preußen Krieg führen müssen, um es daran zu hindern, sich auf Kosten Dänemarks zu bereichern. Allerdings gibt es auch noch andere Möglichkeiten zu handeln… Ja, ja, schicken die Großen sich erst an, die Kleinen aufzufressen, so weiß man nie, wann das ein Ende nimmt… Und was Mexiko betrifft…“

Monolog Mosers in Zolas Roman „Geld“

Unschwer zu erkennen ist, dass für den „Ängstlichen“ eigentlich alles, was irgendwo auf der Welt passiert, relevant für seine Spekulationsgeschäfte ist. Demnach ist auch alles was zukünftig passieren wird oder passieren könnte, heute schon relevant für seine Entscheidungen. Aus meiner Sicht sind solche Börsencharaktere prädestiniert dafür, am Aktienmarkt finanziell und gesundheitlich unterzugehen.

Der „Bankier“

So wie es heute ist und so wie es auch 1929 war, muss es auch im Paris der 1860er Jahre gewesen sein. Die Götter der Börse sind immer die großen Banken mit ihren vermeintlich geheimen Einsichten, ihrem durch die Kreditvergabe beliebig einsetzbaren Machthebel und ihrer für die realwirtschaftliche Aktivität eigentlich nur Marginal bedeutsame Tätigkeit. So betritt also auch kurz vor Handelsauftakt ein gewisser Bankier namens „Gundermann“ das dem Börsengebäude gegenüberliegende Restaurant Champeaux, in dem alle Protagonisten sich am Vormittage versammelt hatten:

Gundermann trat soeben ein, der König der Bankiers, der Herr der Börse und der Welt, ein Mann von sechzig Jahren, dessen riesiger Kahlkopf mit der dicken Nase, den runden, hervortretenden Augen, ungeheuren Starrsinn, aber auch Erschöpfung ausdrückte. Nie ging er zur Börse und tat sogar, als schicke er nicht einmal einen offiziellen Vertreter dorthin. Noch viel weniger frühstückte er in einem öffentlichen Lokal.

Auftritt Gundermanns in Zolas Roman „Geld“

Und mit seiner geheimnisvollen Aura versetzt er alle anderen Marktteilnehmer in eine unbändige Spannung, die sich wie folgt ausdrückt:

Sofort flog das Personal, um das Glas Wasser zu bringen, und alle Gäste vergingen vor Servilität. Moser (der „Ängstliche“) betrachtete verstört diesen Mann, der alle Geheimnisse wußte, der nach Belieben die Kurse steigen oder fallen ließ, wie Gott den Donner macht.

Viele Börsianer, die im Begriffe waren aufzubrechen, blieben noch, umstanden diesen Gott der Börse und machten ihm inmitten der Unordnung beschmutzter Tischtücher katzbuckelnd ihre respektvolle Reverenz.

Kurz vor handelsstart der ersten Szene in Zolas Roman „Geld“

Ich habe lange überlegt, ob ich diese Szene aus dem 19. Jahrhundert für den Leser auf die „Bankengötter“ des 21. Jahrhunderts übertragen muss, um den Bezug herzustellen. Dann kam ich aber zu dem Schluss, dass das nicht notwendig ist. „Same Shit, different century!“, schrieb er und ging zum nächsten Absatz über.

Ein Gerücht entsteht…

Schließen möchte ich meine Glosse über Börsencharaktere mit Zolas markanter Darstellung einer aus Angst geborenen, selbsterfüllenden Prophezeiung, die die Kurse unweigerlich bewegt, weil ihre Glaubwürdigkeit aus dem Nichts einfach zu stark angewachsen ist.

Zum Verständnis muss ich aber vorausschicken, dass Amadieu, der Weise, mit einem Makler namens Mazaud in ein Gespräch vertieft mitten im Restaurant Champeaux sitzt und sich mit ihm über etwas persönliches, nicht-börsenrelevantes unterhält. Moser, der „Ängstliche“, hat laut die Angst geäußert, dass die Arbeiten der Suez AG („Suezunternehmen“) am Suez-Kanal nicht weitergehen könnten, weil dort angeblich ein Arbeiteraufstand droht.

Moser: „Diese internationale Arbeitervereinigung […] ängstigt mich sehr. Es gibt in Frankreich eine Protestbewegung, eine revolutionäre Gärung, die sich jeden Tag deutlicher bemerkbar macht… Ich sage Ihnen, der Wurm sitzt in der Frucht! Alles geht in die Brüche!“

Da erhob sich lärmender Widerspruch. […] Moser selbst aber wandte beim Sprechen kein Auge vom Nachbartisch, wo Mazaud und Amadieu in all dem Lärm fortfuhren, sich ganz leise zu unterhalten. Allmählich geriet der Saal über diese lang anhaltenden vertraulichen Mitteilungen in Unruhe. Was hatten die sich denn zu sagen, wen sie so tuschelten? Zweifellos gab Amadieu Aufträge und bereitete einen Coup vor. Seit drei Tagen liefen schlimme Gerüchte über die Arbeiten am Suezkanal um.

Moser: „Wissen Sie schon, die Engländer wollen es verhindern, dass man dort unten arbeitet? Es könnte leicht zum Kriege kommen!“

Sofort flog der Ausspruch von Tisch zu Tisch und nahm die Gewalt einer Gewißheit an. England hätte ein Ultimatum mit der Forderung geschickt, sofort die Arbeiten einzustellen. Offenbar sprach Amadieu nur über dieses Thema mit Mazaud, den er vermutlich beauftragte, alle seinen Suezaktien zu verkaufen

Ein gerücht entsteht in Zolas Roman „Geld“

… das Gerücht treibt die Kurse

So! Das Gerücht wurde also vom „Ängstlichen“ laut ausgesprochen, fiel auf den fruchtbaren Boden der Hitzköpfe im gleichen Saal und hat nun die „Gewalt einer Gewißheit“. Was folgt ist die Erfüllung dieser Prophezeiung, der einfach nur gerüchteweise geäußerten Angst. Ein Kunde des Maklers Mauzard tritt an ihn heran und erteilt eine erste Order….

[Der Kunde] trat an Mazaud heran und drückte ihm die Hand. Er neigte sich zu ihm herab und gab eine Order, die jener auf seinem Zettel notierte.

„Er verkauft seine Suezaktien“, murmelte Moser und sagte, krank vor Zweifel, als könne er nicht anders, ganz laut: „Oh, wie denken Sie über Suez?“

In dem Stimmengewirr trat eine Stille ein. Alle Köpfe der benachbarten Tische wandten sich um. Diese Frage war der Gesamtausdruck wachsender Angst. Aber der Rücken Amadieus, der Mauzad einfach eingeladen hatte, um ihm einen seiner Neffen zu empfehlen, und der nichts weiter zu sagen hatte, blieb undurchdringlich, während der Makler, der sich über die bei ihm einlaufenden Verkaufsaufträge zu wundern begann, sich aus seiner Berufsgewohnheit heraus, verschwiegen zu sein, mit einem Kopfnicken begnügte.

Der reale einfluss eines irrealen Gerüchts auf den aktienkurs

Was nun mit dem Aktienkurs der Suez AG passiert, wenn der Makler zu Handelsbeginn all seine Verkaufsorders platzieren möchte, muss ich wohl niemandem darlegen.

Resümee

Natürlich sind das alles Romanfiguren und nicht jeder ist nur ängstlich oder weise. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Allerdings gibt Zolas Überzeichnung der Börsencharaktere aufschlussreiche Anhaltspunkte, das eigene Verhalten zu analysieren, denke ich. Darüber hinaus ist „Geld“ einfach ein wirklich lesenswerter Roman, den ich hiermit jedem halbwegs interessierten Bücherwurm (in meiner Ausgabe sind es rund 500 Seiten Text) ans Herz lege.

Beunruhigt bin ich immer nur dann, wenn ich Menschen höre, die mir erklären wollen, dass die Börse heute viel effizienter, sicherer, moderner, schöner, gesünder blabla ist. Im Kern basiert sie immer noch auf Vertrauen, Gier und Angst. Und das war damals eben genauso…

– Fin –

1 Kommentar

  1. Kai

    Hi,
    sehr interessantes Buch. Mal ein bisschen anders dargestellt. Packe ich mal auf jeden Fall auf meine Leseliste. Wirkt sehr kurzweilig 🙂

    LG Kai

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