In Folge meines Vergleichsbeitrages zu den Beteiligungsgesellschaften GBK und BlueCap gab es viele Diskussionen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Bewertungsansätze bei der Unternehmensanalyse. Während ich bei meinen Analysen stets beim bilanziell ausgewiesenen Buchwert (je Aktie) starte, sehe anderen Value-Investoren diese Kennzahl eher kritisch:

Die Unternehmenskennziffer Buchwert je Aktie gibt die Höhe des auf die Aktionäre entfallenden Eigenkapitals pro Aktie an. Er berücksichtigt nur den bilanziell ausgewiesenen Wert der Aktiva, nicht jedoch mögliche stille Reserven oder stille Lasten. Daher sind Buchwerte in der Bilanz skeptisch zu betrachten, weil man sie kaum verifizieren kann.

Michael C. Kissig, intelligent-investieren.net

Weil ich immer für einen sachlich-fachlichen Diskurs zugänglich bin, möchte ich mich heute etwas näher mit dem Net Asset Value (NAV) befassen, der scheinbar von anderen Value-Investoren bevorzugt wird und ja offensichtlich etwas anderes sein muss, als der reine Buchwert.

Berechnungsmethoden

Egal welche Definition man bemühen möchte, im Kern berechnet sich der NAV aus der Summe aller Vermögensgegenständen abzüglich aller Verbindlichkeiten einer Organisation. Nehmen wir also einmal an, mein Musterdepot wäre in einer Beteiligungsgesellschaft gebündelt; dann hätte ich Ende Juni 2019 ausgewiesene Vermögensgegenstände (eigene Wertpapiere) in Höhe von 11.597,76 Euro. Da meine Beteiligungsgesellschaft momentan keine Schulden hat, entspräche diese Zahl dann auch dem NAV. Wenn ich mein Musterdepot nun in 100 Aktien aufteilte und an die Börse brächte, dann hätte jede der Aktien einen NAV von 115,98 Euro. Der Akteinkurs meiner fiktiven Beteiligungsgesellschaft könnte dann ruhig bei 300 Euro oder bei 50 Euro liegen, auf den NAV hätte das keinen Einfluss.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Berechnung des NAV nicht sonderlich von der Berechnung des Buchwertes. Ich würde sogar soweit gehen, dass Buchwert je Aktie und NAV je Aktie dasselbe sind, wenn man bei der Berechnung des NAV auch Minderheitengesellschafter bzw. andere Gesellschafter herausrechnet sowie Eigekapitalsonderformen vermindernd berücksichtigt (siehe zum Beispiel das Hybrid-Eigenkapital der Südzucker AG).

Im Folgenden werde ich Buchwert und diesen (reinen) NAV daher also synonym verwenden.

Stille Reserven

Die Basis für die NAV-Berechnung sind die bilanziellen Vermögensgegenstände der Organisation. Wie viel so ein Vermögensgegenstand wert ist, muss der Eigentümer/das Unternehmen bei jeder Bilanzierung neue messen und dafür gibt es natürlich unzählige buchhalterische Vorgaben, aber eben auch Spielräume, deren Ausnutzung in letzter Konsequenz einen erheblichen Einfluss auf den NAV haben.

Nehmen wir an, ich bin dieses Mal eine Immobilienbeteiligungsgesellschaft und habe nur eine Immobilie: ein vollständig mit Forstpflanzen (sprich: Bäumen) bewachsenes Seeufergrundstück mit Baurecht am Starnberger See mit einer Größe von 1.000m². Nun steht also das Jahresende vor der Tür, weshalb mein Buchhalter und ich zum Starnberger See aufbrechen, um eine valide Bewertung des Grundstückes vorzunehmen.

Der Bodenrichtwert des Grundstückes in Bodenrichtwertzone 201 wird vom Landratsamt Starnberg mit fiktiven 500 Euro/m² angegeben. Da das Gründstück allerdings noch nicht erschlossen ist und der darauf befindliche Bewuchs gegenwärtig undurchdringbar ist, berücksichtigen mein Buchhalter und ich einen 50%igen Abschlag auf den Bodenrichtwert und nehmen das Grundstück mit 250.000 Euro in die Bilanz (Buchwert). Vergleichbare Grundstücke in Bodenrichtwertzone 201 am Starnberger See wechselten im letzten Jahr übrigens für fiktive 1.000 Euro je Quadratmeter den Eigentümer (Verkehrswert).

Das Grundkaptial meiner Immobilienbeteiligungsgesellschaft ist weiterhin in 100 Aktien aufgeteilt und es ist unschwer zu erkennen, dass der NAV statt der von meinem Buchhalter angegebenen 2.500 Euro je Aktie gut und gerne auch 10.000 Euro je Aktie betragen könnte. Je nachdem, wie optimistisch ich bilanziere. Die Differenz zwischen 2.500 Euro und 10.000 Euro ist sozusagen eine „stille Reserve“ meiner Gesellschaft.

Stille Reserven sowie stille Lasten ergeben sich somit aus angenommenen Bewertungsdiskrepanzen, die sich erst bei einem Verkauf (Liquidation) des Vermögegensgegenstandes materialisieren. Insofern sind stille Reserven also zunächst nur Schätzungen über den Erfolg/Misserfolg einer möglichen Veräußerung des Vermögens.

Resümee

Es scheint egal, welche einzelnen Parameter ich in die Berechnung des Unternehmenswertes (je Aktie) einfließen lasse, das Ergebnis ist und bliebt nur eine grobe, subjektive Schätzung; berücksichtige ich stille Reserven oder nicht? Wie valide sind meine Schätzungen über stille Reserven? Wie glaubwürdig sind die bilanziell ausgewiesenen Vermögensbewertungen? Berücksichtige ich zukünftig erwartbare Cash-Flows (Stichwort: Discounted-CashFlow-Verfahren) oder lieber nicht?

Eines bleibt festzuhalten: NAV je Aktie und Buchwert je Aktie versuchen im Wesentlichen dieselbe Frage zu beantworten: Wieviel Eigenkapital/Nettovermögen steckt hinter einem Anteilsschein/einer Aktie? Unter Beachtung einer angemessenen Sicherheitsmarge in allen Überlegungen bleiben NAV und Buchwert also weiterhin unverzichtbare Werkzeuge im Repertoire des Value-Investors.


P.S.: Von meinem Gefühl her wird der Begriff „NAV“ häufig im Kontext von Beteiligungsgesellschaften bzw. Fonds verwendet. Daher hier noch ein passender Link dazu. Dass ein „normales“ Unternehmen von „seinem NAV“ spricht, ist mir noch nicht untergekommen.